Donnerstag, 06.06.2013
Mit den ersten Sonnenstrahlen erwacht auch Omorat – und zeigt sein weniger schönes Gesicht. Rauch liegt in der Luft, Menschen liegen in Decken gehüllt noch halb schlafend am Wegrand und nebenan werden Abfälle verbrannt.
Wir verlassen den Ort mit Ziel Ileret in Kenia.
Die Strecke ist einsam und verlassen und nichts deutet auch nur im Entferntesten darauf hin, dass dies neben dem Grenzübergang bei Moyale die einzige ist, die Äthiopien und Kenia verbindet. Grenzstation gibt es auf kenianischer Seite keine. Nur ein über die Piste gespanntes Seil, eine kenianische Flagge und ein Polizist, der unsere Papiere kurz überfliegt lassen uns ahnen, dass wir jetzt wohl die Grenze nach Kenia passiert haben. Keine Einreisestempel, kein Carnet.
Durch seine Lage am ostafrikanischen Graben und gerade 370m über NN ist die Landschaft um den Lake Turkana ist eine wüstenähnliche Steppe. Bäume sind eher selten und entsprechend anders sind die Hütten der Dörfer gebaut. In Ermangelung an Holz wird oft Wellblech genommen, plattgeklopft und dann bogenförmig über die Hütte gelegt. Kaum verwitternd und ein guter Schutz gegen den Regen wird es aber tagsüber in den Hütten unsäglich heiß.
Die Strecke ist durchsäht von Flussdurchquerungen. In der Trockenzeit kein Problem, in der Regenzeit wird dies aber zur Herausforderung und die Strecke ist oftmals unpassierbar.
Am späten Vormittag erreichen wir Illeret am Lake Turkana. Unser Ziel ist die die benediktinische Missionsstation, die seit mehr als 10 Jahren von Pater Florian geleitet wird. Als Urenkel des letzten bayrischen Königs, Ludwig III wäre die korrekte Anrede „Pater Florian Prinz von Bayern“, aber das war nie sein Leben. Er wurde Benediktiner und lebt seit 25 Jahren in Kenia. Als er vor etwa 15 Jahren nach Nairobi versetzt wurde war nach kurzer Zeit sein größter Wunsch nur raus aus der Stadt zu kommen und in einer Missionsstation zu arbeiten, die „so weit weg von Nairobi wie irgendwie möglich ist“. Nach drei Jahren wurde ihm dieser Wunsch erfüllt – und er kam nach Illeret. Und wenn man den Begriff „In the Middle of Nowhere“ mit einem Ort assoziieren möchte – dann ist Illeret dieser Ort.
Als Pater Florian vor 12 Jahren nach Illeret kam, stand hier nur ein kleines Missionshaus. Seither wurden eine Schule, eine Werkstatt, das Missionsgebäude und eine Kirche errichtet. Die Reihenfolge spricht für sich.
Er berichtet von den Dilemmata, in denen er und seine Schüler stecken. „Die besten Ziegenhüter sind auch die besten Schüler. Sie können schon als kleine Kinder aus mehreren hundert Ziegen sofort die zum Teil hundert oder mehr Ziegen erkennen, die ihnen gehören. Mit dieser früh erlernten Auffassungsgabe wären sie eigentlich mehr als prädestiniert für die Schule – aber gleichzeitig möchten die Eltern auch genau diese Kinder zum Ziegenhüten“. Auf die Frage, ob sich die Eltern nicht irgendwie überzeugen lassen, dass die Schule die Zukunft für ihre Kinder bedeutet, schmunzelt er und meint: “Wir haben eine Mittagsverpflegung für die Schüler eingeführt. Eine feste Mahlzeit und ein Esser weniger zu Hause sind unwiderstehliche Argumente. Jetzt kommen mehr Schüler vormittags zur Schule und hüten die Ziegen nachmittags“.
Wäre es keine Missionsstation, so könnte man meinen, Pater Florian führt ein kleines, gemeinnütziges Unternehmen. „Keine Leistung ohne Gegenleistung“ ist sein Credo – und beklagt das Problem mit den Lebensmittel Hilfslieferungen. Wir verstehen das zunächst nicht. Kommen zu wenig Lebensmittel an? „Nein, sie nehmen den Menschen nicht nur die Würde, sie führen zu Lethargie und in der Folge in vielen Fällen bis hin zum Alkoholismus, bei den Frauen oftmals noch mehr verbreitet als bei den Männern. Sie sitzen da, leben in den Tag hinein, brauen auf Hirse-Basis ein dem äthiopischen „Talla“ ähnliches Bier (der Gär- und Alkoholbildungsprozess dauert dabei nur zwei Tage) und beginnen bereits am Morgen damit, sich so den Tag zu gestalten. Und warten bis die nächste Lebensmittellieferung kommt….
Über ein ganz anderes Problem ist er sichtlich noch mehr betrübt. Er berichtet von dem „negativen Einfluss“ der Schule auf die Mädchen. Wir verstehen auch dies zunächst nicht, bis er uns erklärt, dass durch die Schule sich die Mädchen ab dem entsprechenden Alter mit Dingen wie Schminke, Parfüm oder schöner Kleidung befassen. Wir verstehen noch immer nicht – das ist doch ganz normal. Stimmt, aber es sind dies alles Dinge, die es hier nicht gibt und wenn es sie gäbe, sich niemand leisten könnte. Gäbe es nicht in der Nähe die Polizeistation, in der zweitweise über 100 Polizisten mehr als zwei Tagesreisen von Nairobi entfernt über mehrere Monate stationiert sind. Mehr muss man dazu nicht sagen. Und so hat die Prostitution in manchen Familien bereits über Generationen „Tradition“ und eine inzwischen sehr betagte Frau erzählt noch heute nicht ohne Stolz im Ort, dass sie vor mehr als 40 Jahren die Mätresse des damaligen Polizeichefs war. „Ich frage mich oft, ob es für die Mädchen nicht besser wäre, nicht zur Schule zu gehen und ihr traditionelles Leben fortführen“, meint Pater Florian.
Falls wir am Nachmittag zum See zum Schwimmen fahren wollen, können wir ruhig ein paar Kinder fragen, ob sie mitkommen wollen. Das sei immer ein riesen Ereignis. Moooment, schwimmen im Lake Turkana? Irgendwo habe ich in Erinnerung gelesen zu haben, dass der Lake Turkana mit etwa 15.000 Krokodilen eines der Gewässer mit der höchsten Krokodildichte weltweit sei. „Ja, vor einem halben Jahr ist noch ein Mann beim Schwimmen angegriffen worden und hat im wahrsten Sinne des Wortes seinen halben Hintern verloren. Aber das Krokodil war das einzige in der Gegend und wurde inzwischen erlegt. Und die Kinder wissen, wo man schwimmen gehen kann“. Hoffentlich hat er Recht…
Unser Mobby ist voll beladen. Aber 3-4 Kinder sollten auf dem Weg zum See sicherlich irgendwie noch unterzubringen sein. Als wir vorsichtig signalisieren, dass wir zum See zum Schwimmen fahren wollen und fragen, ob der eine oder andere mitkommen möchte, wird das Auto gestürmt, bevor wir zu Ende geredet hatten. Drücken, Quetschen. Jeder will rein. Und wer sich nicht wehrt, wird vom nächsten einfach wieder rausgezogen. Irgendwie haben wir dann doch 11 Mitfahrer allen Alters untergebracht. Aus allen Türen und Fenstern schauen Hände, Arme, Beine und lachende Gesichter raus. Irgendwie schaffen wir es dann auch noch, selbst einzusteigen. Zwischen Jens und mir sitzen in der vordersten Reihe alleine drei weitere Kinder.
Gefahren wird dann im Teamwork, ein hilft beim Lenken, der andere schaltet. Die Verkehrsdichte verzeiht dann auch durchaus den einen oder anderen Fahrfehler
Auf dem Rückweg führen uns unsere Begleiter noch zu der auch auf Initiative von Pater Florian errichteten Pumpstation, die Wasser, angetrieben durch ein Windrad, aus dem Lake Turkana in den Ort pumpt. Das Wasser ist mit dem 100 fachen Natrium- und 30 fachen Chloridgehalt als unser deutsches Trinkwasser nur für Menschen genießbar, die sich Zeit Lebens daran gewöhnt haben. Sonstiges Trinkwasser gibt es in dieser wüstenähnlichen Region nicht.
Die Missionsstation bezieht ihr Trinkwasser übrigens dadurch, dass sie während der Regenzeit, die es auch hier gibt, Regenwasser in Zisternen sammelt. Und das muss dann bis zur nächsten Regenzeit reichen.
Was Pater Florian bei den Menschen hier bewirkt hat, erschließt sich uns auch an Kleinigkeiten. Wir hatten 11 Kinder (nein, heute muss ich sagen „Freunde“) bei uns im Wagen und es lagen unzählige Kleinigkeiten herum, von unseren Stoffmaskottchen bis zu Kleingeld in der Ablage. Sie fragten uns, ob sie etwas davon haben können und wir baten sie um Verständnis, dass dies teils für uns persönlich sehr wichtige Dinge sind und wir sie ihnen deswegen nicht geben möchten. Es lag später noch alles an seinem Platz.
Wir fahren zurück, leuchtende Augen unserer Begleiter als wir durch den Ort fahren („seht ihr uns auch alle“ ) und ob des Erlebten. Und in der immer tiefer stehenden Sonne wirkt alles irgendwie schon fast idyllisch. Die Realität ist leider anders und lässt keinen Platz für Romantik. Ein bereits angeschimmeltes Brot, das wir eigentlich entsorgen wollten, führt fast zu einem Verteilungskampf. Drei Viertel ihres Kalorienbedarfs müssen die meisten aus Ziegenmilch bestreiten und so wird auch ein angeschimmeltes Brot bereits zu einem unbeschreiblichen Objekt der Begierde. Wir haben kein wirklich gutes Gefühl dabei, als wir das gröbste vom Brot abschneiden und den Rest so gerecht wie möglich verteilen. Sie haben Hunger.
Wir haben einen Stellplatz auf dem Gelände der Missionsstation und es ist schon rabenschwarze Nacht, als wir uns etwas zum Abendessen zubereiten wollen. Und bevor wir die Außenbeleuchtung unseres Mobby überhaupt richtig eingeschaltet hatten, ist das Auto bereits schwarz vor Fliegen aller Art. Also Licht aus und Kochen bei Dunkelheit – einen Schwung Kartoffeln und zwei Steaks, die wir noch aus Addis dabei hatten, das sollten wir hinbekommen. Die Augen haben sich gerade an die Dunkelheit und der Gaumen an den Beigeschmack von Fliegen beim Essen gewöhnt, als wir aus einem Gebüsch zuerst Geräusche, dann Stimmen hören: „Jensi, Jensi!“ Wir können es zunächst nicht zuordnen. Dann wieder, “Jensi, Jensi”. Wir gehen auf den Busch zu. “Jensi – do you have something to eat for us? We are so hungry. No food at home“. Es waren zwei der kleineren Jungs vom Nachmittag. Wir beschließen, dass wir eigentlich ohnehin keinen Hunger mehr haben, packen alles in etwas Alufolie und geben es den Jungs.