Dienstag, 15.01.2013

Von einem anderen Stern, aus einer anderen Zeit – Bull Jumping bei den Hamer

Wir machen uns zusammen mit unserem Guide Mamo gewohnt früh morgens auf den Weg, und schon nach den ersten Kilometern wird uns klar, dass wir trotz allem, was wir bisher gesehen haben, jetzt nochmal in eine andere Welt eintauchen. Ziel ist der Stamm der Hamer, bei dem an diesem Tag das uralte Ritual des „Bull Jumping“ zelebriert wird. Bevor ein Mann die Erlaubnis erhält zu heiraten, muss er sich als echter Mann beweisen und, je nach Laune der Stammesältesten und eigenem Selbstbewusstsein, über 7-10 nebeneinander aufgereihten Bullen rennen, ohne runterzufallen. Schafft er es, ist er der Held des Tages. Schafft er es nicht, wird er zum Gespött des Stammes, darf sich aber einige Zeit später nochmals daran versuchen. Geheiratet wird aber erst, wenn die Bullen überwunden wurden.

Unser erstes Ziel auf dem Weg zu den Hamer ist der Markt in Turmi, so ziemlich am südwestlichsten Zipfel von Äthiopien. Die Gegend ist menschenverlassen.

Nur entlang der Piste sehen wir ab und zu Mitglieder unterschiedlicher Stämme, die auf dem Weg zum oder vom Markt sind. Unterscheiden lassen sie sich ganz gut durch ihre Kleidung und insbesondere ihren Schmuck

Noch in Jinka treffen wir vier Frauen vom Stamm der Mursi. Gut zu erkennen sind sie an ihren Lippentellern, wodurch der Stamm mit seinen noch rund 10.000 Stammesmitgliedern bekannt ist. Die Tellerlippen selbst tragen sie jedoch nur zu Festlichkeiten – oder wenn Touristen kommen.

Auf der Weiterfahrt erfahren wir von Mamo, dass (nicht nur) bei den Hamer Polyagamie der Standard ist.

Den Status einer Frau kann man dabei an ihrem Halsschmuck erkennen, wobei die Anzahl der eisernen Ringe (also nicht die großen, diese sind reiner Schmuck), die sie um den Hals trägt, zeigt an, ob ihr Mann eine oder mehrere Frauen hat und ob sie die Erstfrau oder „nur“ einen weitere ist. In der Kultur der Hamer hat der Rang, eine Erstfrau zu sein, erhebliche Bedeutung, haben doch die Erstfrauen einen gehobenen gesellschaftlichen Rang, während die Zweit- und Drittfrauen unter ohnehin schon schwierigen Umständen ein schon sklavenähnliches Dasein führen. Und Sorgen wegen eventueller Konkurrenz durch jüngere Frauen muss sich die Erstfrau auch nicht machen:  Sie behält den Status als Erstfrau, so lange der Mann lebt. Egal wie viele weitere Frauen er hat.

Wie kann man dies nun erkennen: Trägt eine Frau keinen eisernen Ring, so ist sie nicht verheiratet. Wer wen heiratet machen dabei die Familien untereinander aus. Heiratet sie und ist die Erstfrau, so bekommt sie den eisernen Ring mit dem oben gut erkennbaren nach vorne gerichteten „Knubbel“ als Symbol der Erstfrau. Kommen weitere Frauen hinzu, so bekommt sie weitere Ringe, behält aber ihren Ring mit dem „Knubbel“. Hat eine Frau Ringe ohne „Knubbel“, so ist sie als nachrangige Frau verheiratet.

Der Markt von Turmi ist der größte  in der Region, und viele Frauen unternehmen Tagesmärsche, um einen Topf Honig zu verkaufen.

Wir nutzen unser frisch erlangtes Wissen und über uns darin zu erkennen, welchen Stand welche Frau hat – und welche noch zu haben ist. Und obwohl ich Olya verspreche, dass sie ja ohnehin die Erstfrau bleibt und ich ihr auch den zugehörigen „Ring mit Knubbel“ kaufen würde, kann sie absolut nicht übereinstimmen, dass eine Zweitfrau doch eine Bereicherung sein könnte.

Das Bulljumping

Am frühen Nachmittag erreichen wir dann nach der Durchquerung unzähliger meist ausgetrockneter Flussbetten irgendwo, wo auch die letzte Piste fast nicht mehr als solche bezeichnet werden kann, die Hauptansiedlung der Hamer. Das Bulljumping gehört in deren Kultur zu den bedeutendsten Ritualen und die Festlichkeiten werden durch Tänze der weiblichen Verwandten des „Jumpers“ eingeleitet.

Bestandteil des Brauchs ist das Auspeitschen der Mädchen durch die Junggesellen, die den Sprung über die Rinder bereits erfolgreich absolviert haben. Wir haben zunächst ein etwas mulmiges Gefühl, diesem martialisch anmutenden Ritual beizuwohnen.

Die Szenerie ist nicht von dieser Welt: Die Mädchen und Frauen beginnen, sich zum Klang der Blechhörner und dem Rasseln ihrer an den Beinen angebrachten Schellen in einen fast ekstatischen Zustand zu tanzen.

Dann wird der erste Whipper – Auspeitscher, entdeckt.  Stampedenähnlich rennen die Frauen auf ihn zu, werfen sich vor ihn, provozieren ihn, um genau die zu sein, die jetzt ausgepeitscht wird. Es ist keine Show, sondern im wahrsten Sinne des Wortes blutiger Ernst. Es gilt als Zeichen der Zuneigung für den Jumper und Trophäe, möglichst viele Narben mitzunehmen.

Es scheint uns alles wie von einer anderen Welt, in die wir unter den Tänzen, dem andauernden Läuten der Schellen und dem Blasen der Blechhörner irgendwie immer weiter eintauchen. Zwei Stunden dauert das Ritual, immer wieder unterbrochen durch Tänze und das Verschwinden und dann wieder Auftauchen der Whipper. Mit zunehmender Zeit verschwimmt die Realität der Wahrnehmung dessen, was uns umgibt. Das Ritual gilt bei vielen wegen dessen Brutalität und (letztendlich subjektiv) wahrgenommener Unmenschlichkeit als äußerst umstritten. Seine Abschaffung wird von vielen Außenstehenden gefordert, von den Hamar allerdings allerseits abgelehnt, da es unabdingbar mit dem Bull Jumping verbunden ist und eine der wichtigsten Traditionen für das Volk darstellt. Können wir dies wirklich beurteilen und steht es uns zu, dies zu tun ? Und wie würde ein Hamer einen (Frauen-) Boxkampf beurteilen?